Praxisempfehlungen der European Association of Psychology and Law (EAPL) zu Forensischen Befragungen von Kindern

EINLEITUNG

Wenn Kinder Opfer von Missbrauch oder Misshandlung werden, ist ihre Schilderung der Ereignisse oft das wichtigste Beweismittel in Strafverfahren. Die Art und Weise, wie Kinder im Rahmen von Ermittlungen und vor Gericht befragt werden, unterscheidet sich jedoch sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas erheblich. Zum Teil werden Befragungspraktiken angewandt, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und sowohl für die Kinder als auch für das Strafverfahren nachteilige Folgen haben können. Dabei gibt es in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur durchaus konsensfähige Goldstandards – „Best Practices“ – für die forensische Befragung von Kindern. Ziel dieses „White Papers“ ist es, den aktuellen Stand der Forschung und die Goldstandards zur forensischen Befragung von Kindern für Fachkräfte unterschiedlicher Professionen überblicksartig zugänglich zu machen.

Das „White Paper“ fasst zentrale empirische Erkenntnisse zur Befragung von Kindern in forensischen Kontexten zusammen und stellt evidenzbasierte Praktiken zur Befragung von Kindern vor, die sich als valide, zuverlässig und kindgerecht erwiesen haben. Damit werden „Best Practice“-Richtlinien für die forensische Befragung von Kindern zur Verfügung gestellt, deren europaweite Umsetzung empfohlen wird. Gleichzeitig soll vor potenziell schädlichen Praktiken gewarnt und die Etablierung einer einheitlichen Befragungspraxis unterstützt werden.
Die Empfehlungen des „White Papers“ wurden von einer internationalen Gruppe von Wissenschaftler:innen der EAPL verfasst, die sich mit dem Umgang mit Kindern in europäischen Justizsystemen befassen. Dieser Gruppe gehören neben Forscher:innen auch praktisch tätige Kolleg:innen aus dem Bereich der forensischen Befragung von Kindern an.

Die Empfehlungen entsprechen im Wesentlichen den Barnahus-Standards Nr. 6 (Forensische Befragungen), enthalten praktische Anleitungen zu deren Umsetzung in der Praxis und stehen im Einklang mit den sogenannten Mendez-Prinzipien (Prinzipien zu effektiven Vernehmungen für Ermittlungen und Informationssammlungen).
Auch wenn die für die Befragung von Kindern in Missbrauchs- und Misshandlungsverfahren entwickelten Leitfäden für andere Fallkonstellationen ggf. angepasst werden müssen, gelten die Grundprinzipien einer guten Befragung kontextübergreifend für alle Befragungen von Kindern zur Abklärung von Verdachtsfällen. Dazu gehören Befragungen im Kontext des Kinderschutzes, aber auch Befragungen von Kindern als Beschuldigte oder in anderen Ermittlungsbereichen (z.B. Menschenhandel).

KERNEMPFEHLUNGEN

1: Kinder in Opfer- und Zeug:innenrollen verstehen
In Europa und weltweit führen verschiedene Berufsgruppen Befragungen von Kindern durch, die Opfer von Straftaten wie Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung geworden sind, sowie von Kindern, die einer Straftat beschuldigt werden. Es gibt keine Berufsausbildung, die garantiert, dass alle Aspekte einer sachkundigen und professionellen Befragung von Kindern abgedeckt sind. Befragende benötigen Fachwissen über das Gedächtnis, die sprachlichen Fähigkeiten und mögliche besondere Bedürfnisse von Kindern, über die sozio-emotionalen Mechanismen, die Kinder in Gesprächen mit Erwachsenen beeinflussen, über die Empfänglichkeit von Kindern für Annahmen und Suggestionen von Erwachsenen und über die Faktoren, die eine Offenbarung beeinflussen können. Die Befragenden müssen auch die Bedeutung des Aufbaus einer angemessenen Beziehung zu dem Kind und der sozio-emotionalen Unterstützung während der Befragung verstehen und in der Lage sein, eine solche Beziehung während der Befragung aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus müssen sie mit dem rechtlichen Kontext vertraut sein, in dem die Befragung stattfindet.

2: Evidenzbasierte Befragung von Kindern
Kinder sollten bei Verdacht auf Missbrauch oder Misshandlung einfühlsam und auf der Basis evidenzbasierter Gesprächsleitfäden wie dem NICHD protocol befragt werden. Diese Leitfäden basieren auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und zielen darauf ab, so viele zutreffende Informationen wie möglich von einem Kind zu erhalten. Die Verwendung offener Fragen erleichtert die ergebnisoffene Klärung möglicher Vorfälle und gibt Kindern die Möglichkeit, detaillierte Angaben zu möglichen Erinnerungen zu machen.

3: Phasen der Befragung
Eine gute Befragung sollte aus einer Abfolge bestimmter Phasen bestehen: Zu Beginn sollten sich die Befragenden Zeit nehmen, eine positive Gesprächsbeziehung zum Kind aufzubauen, dem Kind die Befragungssituation zu erklären, grundlegende Gesprächsregeln („ground rules“) zu besprechen und ein Übungsgespräch mit dem Kind zu führen. Das anschließende Gespräch über die im Raum stehenden Vorwürfe sollte gut vorbereitet sein und das Tempo und die inhaltliche Abfolge vom Kind gesteuert werden. Abschließend sollte darauf geachtet werden, dass das Kind in einem stabilen Zustand aus der Befragung entlassen wird und dem Kind soweit wie möglich die weiteren geplanten Schritte erläutert werden. Die Befragung sollte insgesamt kindgerecht durchgeführt werden. Dazu gehören der Aufbau einer positiven Gesprächsbeziehung und eine nichtsuggestive sozio-emotionale Unterstützung des Kindes während der gesamten Befragung.
Befragungen von Kindern sind am erfolgreichsten, wenn sie strukturiert durchgeführt werden und verschiedene Phasen beinhalten, die es den Kindern erleichtern, über mögliche Erlebnisse zu berichten.
Zu Beginn der Befragung sollten die grundlegenden Gesprächsregeln („ground rules“) erläutert werden. Dadurch wird Kindern vermittelt, was sie von der Befragung erwarten können und was von ihnen erwartet wird. Beispielsweise sollte erklärt werden, dass es völlig in Ordnung ist, zu sagen, wenn man eine Frage nicht verstanden hat oder die Antwort auf eine Frage nicht weiß.
In der zweiten Phase geht es darum, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Beispielsweise kann das Kind gefragt werden, was es gerne macht (z.B. „Erzähl mir, was du gerne machst“) oder gebeten werden, ein kürzlich erlebtes neutrales oder positives Ereignis zu beschreiben. Ziel ist es, dem Kind durch offene Fragen das Gefühl zu geben, dass ihm zugehört wird, und durch aktives Zuhören das Erzählverhalten des Kindes zu unterstützen.
In einer dritten Phase sollte ein Übungsgespräch über ein Erlebnis des Kindes geführt werden. Dabei sollte es sich noch nicht um das in Frage stehende Ereignis (z.B. den vorgeworfenen Missbrauch) handeln. Das Kind kann z.B. gebeten werden, zu erzählen, was es am Vortag erlebt hat. Ziel des Übungsgesprächs ist es, das Kind damit vertraut zu machen, ein selbst erlebtes Ereignis aus dem Gedächtnis abzurufen und darüber zu berichten sowie sich an die Beantwortung offener Fragen zu gewöhnen. Darüber hinaus können auch die Befragenden in dieser Phase das Stellen offener Fragen üben.
Anschließend kann das Kind auf nicht-suggestive Weise nach dem Grund des Gesprächs gefragt werden (sofern es diesen kennt, z.B. „Ich möchte jetzt darüber sprechen, warum du heute hier bist“). Wenn das Kind hier bereits Angaben macht, sollten im weiteren Verlauf möglichst offene Fragen gestellt werden. Erst wenn das Erinnerungsvermögen des Kindes erschöpft erscheint, können direktere oder geschlossene Fragen gestellt werden (z.B. „Wo ist das passiert?“ oder „Ist es zu Hause oder woanders passiert?“). Auf solche Fragen sollte jedoch immer eine offene Erzählaufforderung folgen (z.B. „Du hast gesagt, dass es zu Hause passiert ist. Erzähl mir mehr darüber“). Zum Abschluss dieser Phase sollte auch nach der Häufigkeit der Ereignisse und nach früheren Offenbarungen gefragt werden.
In der letzten Phase sollte das Kind gefragt wird, ob es noch weitere Dinge gibt, von denen die befragende Person wissen sollte. Dem Kind sollte außerdem verdeutlicht werden, dass es die befragende Person jederzeit wieder kontaktieren kann, wenn es noch mehr berichten möchte. Abschließend sollten Befragende sich bemühen, das Kind in einem stabilen Zustand und wenn möglich positiver Stimmung aus dem Gespräch zu entlassen.

4: Befragungs-Mindset | Hypothesenprüfen
Die Planung, Durchführung und Auswertung einer Befragung sollte einem hypothesenprüfenden Ansatz folgen. Nur so kann dem Einfluss eigener Vorannahmen auf das Ergebnis der Befragung (auch „Bias“ genannt) entgegengewirkt werden. Um dies zu erreichen, sollten Befragende bereits vor dem Gespräch aktiv mögliche alternative Erklärungen für den im Raum stehenden Vorwurf in Betracht ziehen und während der Befragung versuchen, jede dieser alternativen Erklärungen zu explorieren. Ein Beispiel für eine alternative Hypothese wäre, dass das Kind keinen Missbrauch erlebt hat, sondern der Missbrauchsverdacht fälschlicherweise aufgrund von Missverständnissen oder unklaren Angaben des Kindes entstanden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass manchmal auch Kinder, die tatsächlich einen Missbrauch erlebt haben, Fragen danach verneinen, z.B. um den/die Täter:in zu schützen oder aufgrund von Schuld- oder Schamgefühlen. Offene Fragen wirken einer Fixierung auf eine der möglichen Hypothesen entgegen.

5: Aufzeichnen von Befragungen
Die elektronische Aufzeichnung von Befragungen ist unerlässlich, um die Entstehung einer Aussage nachvollziehen zu können, alle gestellten (und nicht gestellten) Fragen zuverlässig zu dokumentieren und die Qualität der Befragung beurteilen zu können. Es wird empfohlen, die Aussagen der Kinder in einem frühen Stadium des Verfahrens audiovisuell aufzuzeichnen, um sie später vor Gericht als Beweismittel verwenden zu können und damit weitere Befragungen zu vermeiden.

6: Anzahl anwesender Personen
Bei der Befragung sollten nur so viele Personen wie nötig anwesend sein, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten und ihm die Offenbarung zu erleichtern.

7: Kulturelle Aspekte | Dolmetscher:innen
Bei der Befragung von Kindern sollten auch kulturelle Aspekte berücksichtigt werden. Dazu können kulturell bedingte Einstellungen zu Geschlecht, Sexualität oder Scham gehören. Daraus können sich beispielsweise erweiterte Strategien für den Beziehungsaufbau ergeben.
Wenn Dolmetscher:innen für die Befragungen eingesetzt werden sollen, sollte die Befragung gemeinsam mit den Dolmetscher:innen vorbereitet werden. Dazu gehört die Information über die geplanten Gesprächsthemen und die Besprechung möglicher relevanter sprachlicher und/oder kultureller Unterschiede. Die besondere Bedeutung einer genauen Übersetzung sollte betont und Regeln für Unterbrechungen während der Befragung vereinbart werden. Dolmetscher:innen sollten zertifiziert sein und, wenn möglich, eine spezielle Ausbildung für Befragungen im juristischen Kontext und/oder für Befragungen von Kindern haben.

8: Einsatz von Puppen, Körperdiagrammen und Zeichnungen
Die Verwendung von Puppen oder ähnlichen Hilfsmitteln wird für die Befragung von Kindern nicht empfohlen. Spielverhalten oder Zeichnungen von Kindern sollten nicht als diagnostische Hinweise für oder gegen das Vorliegen von Missbrauchs- oder Misshandlungserfahrungen interpretiert werden. Wenn ein Kind jedoch nicht in der Lage ist, einen bestimmten Körperteil zu benennen und/oder ein mehrdeutiges Wort für einen Körperteil verwendet (z. B. „Er hat mich an meinem Ding angefasst“), können unter Umständen spezielle Körperdiagramme eingesetzt werden, um das Kind auf den entsprechenden Körperteil zeigen zu lassen.

9: Online-Befragungen
Erste Forschungsergebnisse zu Online-Befragungen von Kindern zeigen vielversprechende Ergebnisse, jedoch sind weitere Untersuchungen erforderlich, bevor evidenzbasierte Empfehlungen gegeben werden können. In der Übergangszeit wird empfohlen, persönliche Befragungen durchzuführen, es sei denn, es stehen keine kompetenten Befragungspersonen in der Nähe des Kindes zur Verfügung (z. B. bei abgelegenen Standorten oder bei sehr kurzfristig anberaumten Befragungen).

10: Befragungstrainings
Um die Qualität der Befragung von Kindern sicherzustellen, sollten alle Befrager:innen spezielle Schulungen sowie regelmäßiges Feedback zu ihrem Befragungsstil erhalten. Schulungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, sind effektiver als einmalige Schulungen. Schulungen sind zudem am effektivsten, wenn sie Gelegenheiten zum praktischen Üben der Gesprächsführung und ein umfassendes Feedback zum Kommunikationsstil und zu den gestellten Fragen beinhalten. Das Feedback sollte unmittelbar, detailliert und kontinuierlich erfolgen. Suggestivfragen und Fragen mit Antwortvorgaben (z. B. Ja/Nein-Fragen, Auswahlfragen) sollten vermieden werden. Zur Qualitätskontrolle sollten aufgezeichnete/beobachtete Gespräche hinsichtlich der Qualität und Quantität der vom Kind erhaltenen Informationen ausgewertet werden.