Forschungsprojekt Prof. Dr. Jacobi: Versorgungsepidemiologie psychischer Störungen: Gesellschaftliche Aspekte von Behandlungsbedarf
Leitung: Prof. Dr. Jacobi, Dipl.-Psych. Julia Thom
Förderung: Hausmittel PHB und Robert-Koch-Institut
Kooperationen: Robert-Koch-Institut
Zeitperspektive: seit 2016
Mitarbeiter/-innen: Prof. Dr. Frank Jacobi, Dipl.-Psych. Julia Thom, Dipl.-Psych. Julia Nübel (geb. Bretschneider), Mag. rer. nat. Josua Handerer
Hintergrund: Die versorgungsepidemiologischen Daten zu psychischen Störungen bilden ein Paradoxon ab: Behandlungsangebote werden stetig ausgebaut, aber die Prävalenz psychischer Störungen bleibt über die Zeit stabil. Trendaussagen zu Wechselwirkungen zwischen Morbidität (Inzidenz/Prävalenz, Behandlungsbedarf) und gesellschaftlichen Bedingungen (Risiko- und Schutzfaktoren, Prävention, Gesundheitssystem) sind allerdings erheblich erschwert, da die Datenlage heterogen und unvollständig ist.
Methoden: Anhand empirischer Befunde aus Bevölkerungssurveys und Versorgungsforschung werden hierzu drei Hypothesen diskutiert: 1) Prävention und Versorgung sind mangelhaft und daher ineffektiv, 2) Versorgungserfolge werden maskiert durch eine wachsende Morbidität aufgrund zunehmender Risikofaktoren, sowie 3) ein psychologischer Kulturwandel bedingt eine häufigere Wahrnehmung und die vermehrte Kodierung und Behandlung psychischer Störungen.
Ergebnisse: Alle drei Erklärungsansätze tragen zum genannten Paradoxon bei: 1) Defizite im Zugang zu Behandlung und ihrer Qualität sind belegt, und die Implementierung von Präventionsmaßnahmen ist lückenhaft. 2) Es kann von vermehrten Problemen von Menschen mit psychischen Störungen in modernen Arbeitswelten ausgegangen werden. 3) Eine steigende Gesundheitskompetenz (Mental health literacy) geht damit einher, dass (Lebens-) Probleme heute häufiger psychologisch interpretiert und behandelt werden.
Diskussion: Zur Beschreibung und Bewertung psychischer Gesundheit in Deutschland sollten neben Prävalenzen auch durch Prävention beeinflussbare Inzidenzen, Mortalität, sowie die Dimensionen Behandlungsbedarf und Versorgungsqualität berücksichtigt werden. Als Einflussfaktoren auf Diagnose und Behandlung müssen auch Gesundheitskompetenz und Stigmatisierung psychischer Störungen betrachtet werden. Die gesellschaftliche Diskussion um die psychische Krankheitslast sollte somit nicht nur gesundheitspolitisch geführt werden (Mental Health in all policies).
Schlagwörter: Versorgungsangebote, Behandlungsbedarf, Gesundheitskompetenz, Risikofaktoren
Kontakt: f.jacobi@phb.de
Publikationen und sonstige Beiträge:
Marchewka, J., Neuvians, A., Franke, G.H., Jacobi, F. (2023). Sexuelle Gesundheit, sexuelle Störungen und Geschlechtsinkongruenz im Klassifikationssystem ICD-11: Entwicklung und Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext. Report Psychologie, 48(2), 16-27.
Jacobi, F. & Marchewka, J. (2022). Epidemiologie von Ängsten und Sorgen. Psychotherapie im Dialog (23), 1–6. DOI 10.1055/a-1686-1231
Jacobi, F., Kunas, S.L., Annighöfer, M.L.D., Götz, T., Sammer, S., Schicktanz, P., Gerlinger, G. (2022). Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in Deutschland. In R. Haring (Hrsg.): Gesundheitswissenschaften. Berlin: Springer. doi:10.1007/978-3-662-54179-1_55-2
Jacobi, F. (2022). Empirisch fundierte Gestaltung der psychotherapeutischen Versorgung. Vortrag im Symposium „Gesundheitspolitische und fachliche Perspektiven der zukünftigen psychotherapeutischen Versorgung“. Vortrag 1. Deutscher Psychotherapiekongress, 7.6.-11.6.22 in Berlin.
Thom., J., Mauz, E., Peitz, D. et al. (2021). Aufbau einer Mental Health Surveillance in Deutschland: Entwicklung von Rahmenkonzept und Indikatorenset. Journal of Health Monitoring, 6(4), 36-68. DOI 10.25646/8860 English version: Establishing a Mental Health Surveillance in Germany: Development of a framework concept and indicator set. DOI 10.25646/8861.
Jacobi, F. (2021). Die Zunahme psychischer Diagnosen im Versorgungsgeschehen: Wie passen Sozialversicherungsdaten und Prävalenzen aus epidemiologischen Feldstudien zusammen? Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg, HCHE Research Seminar, 25.10.2021.
Jacobi, F & Steffen, A. (2021). Administrative Daten des Zi als neue Ressource für die Versorgungsforschung zu psychischen Störungen. Poster auf dem 38. Symposium der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der DGPs, 12.5.-15.5.2021 in Mannheim.
Steffen, A., Thom, J., Jacobi, F., Holstiege, J., Bätzing, J. (2020). Trends in prevalence of depression in Germany between 2009 and 2017 based on nationwide ambulatory claims data. Journal of Affective Disorders, 11762 https://doi.org/10.1016/j.jad.2020.03.082
Steffen, A., Nübel, J., Jacobi, F., Bätzing, J., Holstiege, J. (2020). Mental and somatic comorbidity of depression: A comprehensive cross-sectional analysis of 201 diagnosis groups using German nationwide ambulatory claims data. BMC Psychiatry. 20:142 https://doi.org/10.1186/s12888-020-02546-8
Thom, J., Bretschneider, J., Kraus, N., Handerer, J., Jacobi, F. (2019). Versorgungsepidemiologie psychischer Störungen. Warum sinken die Prävalenzen trotz vermehrter Versorgungsangebote nicht ab? Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 2, 128-139.
Jacobi, F., Jungfer, J., Schuhmann, T., Thom, J. (2019). Ein versorgungsepidemiologisches Paradox? Warum sinkt die Häufigkeit psychischer Störungen trotz vermehrter Behandlungsangebote nicht? Report Psychologie, 44(4), 2-7.
Handerer, J.*, Thom, J.*, Jacobi, F. (2018). Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand. Epistemologische Prämissen, epidemiologische Daten, transdisziplinäre Implikationen. In: T. Fuchs, L. Iwer, S. Micali (Hrsg.): Das überforderte Subjekt, S. 159-209. Frankfurt: Suhrkamp. [*: geteilte Erstautorenschaft]
Jacobi, F. & Linden, M. (2018). Macht die moderne Arbeitswelt psychisch krank – oder kommen psychisch Kranke in der modernen Arbeitswelt nicht mehr mit? Arbeitsmedizin – Sozialmedizin – Umweltmedizin (ASU), 53, 530-536.
Jacobi, F., Handerer, J., Kraus, N., Nübel, J., Thom, J. (2019). Vermehrte Behandlung, aber keine sinkenden Prävalenzen psychischer Störungen: Ein Paradoxon? Vortrag auf dem 11. Workshopkongress für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Erlangen, 29.5.-1.6.2019.
Jacobi, F., Handerer J., Thom, J. (2018). Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand: Epidemiologische Daten und ihre Implikationen. Symposium „Das überforderte Subjekt“, DGPPN-Kongress 2018, Berlin, 30.11.2018.
Jacobi, F., Handerer J., Thom, J. (2018). Ist die Depression eine „Zeitkrankheit“? Überlegungen zu kulturkritischen Annahmen und empirischen Daten zur vermeintlichen Zunahme psychischer Diagnosen. Vortrag auf der Langen Nacht der Wissenschaften, Berlin, 9.6. 2018.
Thom, J., Jacobi, F., Nübel, J., Mauz, E., Hölling, H. (2019). Warum sinken Prävalenzen psychischer Störungen trotz des Ausbaus von Versorgungsangeboten nicht ab? Versorgungsepidemiologischer Überblick und Vorstellung des Projekts „Aufbau einer nationalen Mental Health Surveillance“ am Robert Koch-Institut. Vortrag auf Zi Congress Versorgungsforschung, Berlin, 5.-6-6-2019.