Mehr als eine Million Menschen sind 2022 vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland geflohen – die meisten kamen aus der Ukraine, viele aber auch aus Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Diese Menschen sind vielfältigen psychischen Belastungen ausgesetzt – der Zugang zu psychologischer Hilfe ist jedoch gerade für Geflüchtete in Deutschland durch viele Barrieren erschwert. Um an dieser Stelle schnell und unbürokratisch zu helfen, haben Psychotherapeutinnen in Ausbildung an der PHB im Frühjahr 2022 das Projekt steps – strong together psychologically ins Leben gerufen. Innerhalb weniger Monate haben sie in ehrenamtlicher Arbeit ein professionell agierendes Ambulanzprojekt aufgebaut, das dolmetschergestützte psychologische Beratung für Erwachsene und Kinder anbietet. Inzwischen sind 15 PiAs und 10 Dolmetschende für steps aktiv und es wurden mehr als 150 Beratungsstunden – ebenfalls ehrenamtlich – geleistet. Wir wollten mehr über das Projekt erfahren und haben uns mit Tanja Trost, Swaantje Laurent, Natalia Premer und Mateo Bayer getroffen, um mit ihnen über ihre Erfahrungen mit steps und ihre Wünsche und Ziele für das Projekt zu sprechen.
PHB: Liebes steps-Team, vielen Dank erst einmal, dass ihr euch die Zeit für dieses Interview genommen habt! Könnt ihr uns zum Einstieg erzählen, wie ihr auf die Idee gekommen seid, das Projekt steps ins Leben zu rufen?
Tanja Trost: Wir waren zu Beginn des Ukrainekriegs alle ziemlich überwältigt. Die Frage, die wir PsychotherapeutInnen in Ausbildung (PiAs) uns in dieser Situation gestellt haben, war: können wir einen Beitrag leisten mit der speziellen Kompetenz, die wir haben? Wir haben uns daraufhin als PiA-Gruppe mit sechs oder sieben Frauen zusammengefunden und erste Ideen gesammelt. Unterstützung haben wir dann auch schnell von Prof. Johanna Böttcher, Prof. Frank Jacobi und der Hochschulleitung der PHB bekommen – im Wesentlichen hat sich steps aber als PiA-gesteuertes Projekt entwickelt.
Swaantje Laurent: Was uns am Anfang auch sehr motiviert hat, war die Vernetzung mit der Universität Greifswald, die schon aktiv Geflüchtete psychologisch unterstützt hat. Es hat uns viel Mut gemacht zu sehen, dass so etwas möglich ist. Letztendlich haben wir uns nicht an dem speziellen aufsuchenden Beratungskonzept aus Greifswald orientiert, aber es war ein wichtiger Motivator für uns, der uns Ideen und Input gegeben hat. Seitens der PHB haben wir dann auch einen eigenen Raum gestellt bekommen und auf dieser Basis haben wir begonnen, uns zu organisieren. Es war uns von Anfang bewusst, dass viel an den Sprachmittelnden hängen wird – dass es ohne sie keinen Kontakt und kein Gespräch geben würde. Daher haben wir unsere Fühler zuerst in diese Richtung ausgestreckt. Gefühlt hat es lange gedauert, bis wir die ersten Beratungen anbieten konnten, aber objektiv gesehen ging es, glaube ich, relativ schnell.
Natalia Premer: Ja, im Mai kamen die ersten Anrufe und wir konnten dann auch schnell die ersten Beratungen durchführen.
PHB: Was ist seitdem aus dem Projekt geworden? Was ist steps und an wen richtet sich das Projekt?
Tanja Trost: Zunächst muss man sagen, dass sich unser Konzept mit den Erfahrungen, die wir machen, verändert. Wir hatten auch das Glück, dass wir nicht in ein bürokratisches Korsett gesteckt wurden, sondern uns selbst überlegen konnten, wen und wie wir beraten wollen. Generell hat steps sich zu einem Projekt entwickelt, das schnelle und unbürokratische psychologische Beratungen für Menschen anbietet, die aus ihren Heimatländern zu uns nach Berlin geflohen sind. Am Anfang hatten wir den Fokus fast exklusiv auf Menschen gerichtet, die aus der Ukraine zu uns gekommen sind. Das schloss natürlich auch Menschen aus Drittstaaten ein – die also beispielsweise in der Ukraine als Studierende gelebt hatten und flüchten mussten. Uns war aber nicht wohl dabei, eventuell eine Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Geflüchteten zu kreieren. Darum haben wir unser Angebot ausgeweitet und greifen jetzt dort, wo andere Sprachen als Ukrainisch oder Russisch gefragt sind, auf professionelle Dolmetschende zurück. Was unser Beratungskonzept angeht, so bieten wir in einem ersten Schritt fünf Sitzungen mit 90 bis 120 Minuten an – da unterscheiden wir uns von Psychotherapien, die ja in der Regel 50 Minuten beinhalten. Mit 90 bis 120 Minuten haben wir bisher gute Erfahrungen gemacht, weil ja schon das Dolmetschen Zeit braucht. Was wir aber feststellen, ist, dass die fünf Sitzungen in vielen Fällen zu knapp bemessen sind – daher erweitern wir das in Einzelfällen auf bis zu zehn Sitzungen.
PHB: Wenn ihr von psychologischer Beratung sprecht – was umfasst das in eurem Fall denn genau?
Tanja Trost: Wir versuchen uns auf jede Person mit ihrem individuellen Anliegen sehr genau einzustellen. Dabei nutzen wir ein großes Spektrum an Interventionen. Wir kommen ja auch aus drei verschiedenen Verfahrensrichtungen – was es sehr spannend macht, weil jede und jeder Beratende eigene Ansätze hat. Aber es gibt einige Dinge, die uns einen. Zunächst einmal das Zuhören und Verstehen. Auch Stabilisierung ist ein wichtiges Thema in den meisten Gesprächen. Wir bieten einen Raum, in dem Menschen alle möglichen Themen ansprechen können. Wo sie Dinge aussprechen können, die sie erlebt haben, und wo Gefühle ausgedrückt werden können. Es geht oft um das, was wir in der Psychotherapie Gefühlsvalidierung nennen: Gefühle sein zu lassen, sie ernst zu nehmen und zu vermitteln, dass unangenehme Emotionen wie Angst, wie Wut, wie Verzweiflung oder auch Rachegefühle und Hoffnungslosigkeit da sein dürfen und auch völlig normal sind. Das würde ich sagen, ist eine Kernintervention, die wir alle anwenden.
Natalia Premer: Was ich noch ergänzen würde, ist, dass Belastungen durch die Alltagswelt ein großes Thema sind, bei dem wir unterstützen. Oft sind es zum Beispiel Mütter mit Kleinkindern, die sehr viele bürokratische Dinge erledigen müssen – eine Wohnung oder Arbeit finden, einen Integrationskurs suchen und auch die Zeit finden, an ihm teilzunehmen. Ich habe da eine große allgemeine, emotionale Belastung erlebt.
Mateo Bayer: Eine Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass die Menschen, die ja gewissermaßen auch aus einem anderen kulturellen Kreis kommen, hier am Anfang oft sehr alleine sind. Und da bietet steps eine Art symbolischen Hafen. Das bedeutet, dass man nicht alleine ist – mit egal welcher Problematik. Außerdem trifft man bei steps auf Menschen, die hier leben, arbeiten und groß geworden sind – die die ganzen gesellschaftsspezifischen Abläufe kennen und die Sprache sprechen. Dass Geflüchtete bei uns diese Art von Unterstützung finden und das auch regelmäßig – das hat meine Klientinnen sehr stark stabilisiert.
PHB: Was sind denn Themen oder Bedarfe, mit denen Menschen zu euch kommen?
Natalia Premer: Viele Menschen kommen zu uns, weil sie ein hohes Maß an Stress und Belastung erleben.
Swaantje Laurent: Hoffnungslosigkeit, depressive Symptome und Ängste würde ich auch dazuzählen.
Tanja Trost: Die Fälle sind sehr unterschiedlich und die Menschen kommen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen. Aber ich würde mich auch meinen Kolleginnen anschließen: es sind Belastungssymptome, es sind Depressionen und es sind Angstsymptomatiken. Und es gibt die Herausforderung, sich in dem neuen Umfeld zu orientieren. Außerdem ist uns aufgefallen, dass entgegen unserer Erwartungen konkrete Fluchterfahrungen oder Traumatisierungen sehr wenig angesprochen werden. Vielleicht ist es dafür noch zu früh.
Natalia Premer: Ja, Klient*innen wollen häufig nicht darüber reden. Bei einer meiner Klientinnen ist es auch so, dass sie über ihre Erfahrungen mit dem Krieg und der Flucht nicht sprechen möchte.
Swaantje Laurent: Eine meiner Klientinnen hat zwar über Kriegserfahrungen gesprochen – allerdings ging es dabei um den Angriff aus dem Jahr 2014. Das heißt, wir waren erst einmal in der Vergangenheit und sind gar nicht in die Gegenwart gekommen. Ich will damit sagen: diejenigen, die traumatisiert sind, sind teilweise schon sehr lange traumatisiert.
Mateo Bayer: Ich hätte noch zwei Themen, die ich ergänzen würde. Bei meinen Klienten ist das Thema Einsamkeit sehr präsent. Dazu gehören auch Fragen wie: wer bin ich und was mache ich hier? Und dann Verlust – und das bedeutet auch, Verlust der Heimat oder Verlust der Jugend dort.
Swaantje Laurent: Ja und allgemein die Frage: wie geht es jetzt weiter? Das windet sich wie ein roter Faden durch viele Beratungen.
PHB: Habt ihr die Möglichkeit, Menschen, bei denen ihr merkt, dass sie einen dringenden Therapiebedarf haben, auch in Therapien zu vermitteln?
Natalia Premer: Wenn es auf Englisch möglich ist, dann können wir bei unserer Ambulanz nachfragen. Vor kurzem hatten wir den Fall, dass eine Mutter einen Psychiater gesucht hat für ihre 14-jährige Tochter – auch da konnten wir einen Termin vermitteln. Unsere eigene Grenze ist da, wo es um wirklich klinisch relevante Diagnosen geht – dann können wir im Rahmen unseres Projekts nicht helfen. Wir können auch keine Rezepte ausstellen oder Medikamente besorgen. Aber das klären wir gleich telefonisch, dass wir nicht dafür da sind.
Mateo Bayer: Einige Fälle wurden auch in eine Klinik begleitet.
Tanja Trost: Ja, wir hatten suizidale Fälle, die wir in Kliniken unterbringen konnten – aber ansonsten ist es schon, als würde man eine Nadel im Heuhaufen suchen, wenn es darum geht, einen Psychotherapieplatz zu finden. Es gibt einfach sehr wenige freie Kapazitäten sowohl in unserer eigenen Ambulanz als auch bei niedergelassenen Therapeut*innen. Aber wir freuen uns, dass wir die ersten Klient*innen in die Ausbildungsambulanz der PHB übernehmen konnten, das wurde auch ganz unbürokratisch ermöglicht.
PHB: Was sind eure Ziele mittelfristig mit und für steps? Woran arbeitet ihr gerade und was würdet ihr euch wünschen für das Projekt?
Swaantje Laurent: Ein Ziel ist, dass wir stabil circa 10-15 Klient*innen in der Woche beraten können. Außerdem arbeiten wir noch daran, Abläufe zu optimieren und neue Dolmetschende und Therapierende zu finden. Es läuft schon alles ziemlich gut, aber es ist gleichzeitig auch noch vieles im Werden.
Natalia Premer: Für mich war steps zuerst eine Bewegung, um Menschen zu unterstützen. Und mit der Zeit habe ich gemerkt, wieviel wir als PiAs auch lernen können bei dem Projekt – das ist total bereichernd. Wir mussten Techniken entwickeln und uns Dokumentationsbögen oder Raumbuchungsverfahren überlegen – es ist so etwas wie unsere kleine Ambulanz geworden. Wie die Institutsambulanz aber im kleineren Maßstab. Man lernt viel über Beratungsstrategien und Fallanalyse und Teamarbeit. Ich finde, das ist eine unheimlich hilfreiche Erfahrung.
Mateo Bayer: Aus meiner Sicht war der Ukrainekrieg eine Art Impuls, der dafür sensibilisiert hat, dass es Menschen in Not gibt. Ich bin froh, dass wir unser Angebot ausgeweitet haben. Es hat sich merkwürdig angefühlt, diese Hilfe nur für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe anzubieten, die momentan natürlich massiv leidet. Ich würde mir wünschen, dass wir die anderen nicht aus dem Blick verlieren und ich glaube, das ist auch unser gesellschaftlicher Auftrag. Inhaltlich läuft es aus meiner Sicht gut, ich würde mir aber wünschen, dass die Strukturen, die sich bei uns im Haus der Psychologie in der Zusammenarbeit von BAP und PHB gebildet haben, dauerhaft etabliert werden.
Tanja Trost: Ich würde mir wünschen, dass steps nicht nur ein engagiertes Projekt von einem Jahr war. Ich halte es für realistisch, an der PHB dauerhaft eine Ambulanz für Geflüchtete aufzubauen, die zudem nicht nur auf ukrainische Geflüchtete beschränkt ist. Und ich hätte einen weiteren Wunsch, der mit einem ausdrücklichen Kompliment an die Geschäftsführung und alle Kolleg*innen der PHB verbunden ist, die uns unterstützt haben. Wir haben wirklich immer offene Türen gehabt mit unseren Ideen und haben unheimlich viel Gestaltungsmöglichkeiten. Das hat uns einen tollen Rahmen gegeben, weil wir gestalten durften, wie wir meinten – es hat uns niemand gebremst. Wenn wir etwas brauchten, haben wir es auch bekommen. Und das hat, glaube ich, diese Atmosphäre geschaffen, in der wir dann so engagiert bis heute arbeiten konnten. Ich würde mir wünschen, dass das so bleibt. Das empfinde ich als etwas Besonderes. Für ein Fortbestehen des Projekts werden wir aber tatsächlich mehr finanzielle Ressourcen benötigen. Ich kann mir vorstellen, dass das PiA-Engagement weiterhin hoch bleibt, weil es auch eine wertvolle Erfahrung ist, schon vor der Zwischenprüfung intensiv Beratungserfahrung zu sammeln. Aber mindestens die koordinierenden Stellen – also die Projektleitung und die Anmeldung – müssten dauerhaft finanziell gesichert sein. Das ist das Rückgrat, was alles trägt. Dazu kommen die Dolmetschenden, die für die Beratungen bezahlt werden müssen. Und es wäre außerdem wichtig, auch den Beratenden eine Aufwandsentschädigung geben zu können.
Swaantje Laurent: Ich wünsche mir auch sehr, dass es weitergeht, denn es ist so viel Arbeit und Liebe in dieses Projekt reingeflossen. Es ist etwas sehr, sehr gutes entstanden. Sollte das jetzt irgendwann mal nicht mehr möglich sein, weil die finanziellen Ressourcen fehlen oder unsere PiAs die Zeit nicht mehr ehrenamtlich aufbringen können – das fände ich sehr schade. Ich hoffe, dass dafür Lösungen gefunden werden und auch Kooperationspartner, die uns unterstützen. Persönlich hoffe ich, dass ich noch eine längere Zeit dabeibleiben kann. Aber auch ich muss sehen, wie viel Ehrenamt für mich vereinbar ist mit anderen Bedürfnissen.
Interviewbeteiligte
Tanja Trost, Psychotherapeutin in Ausbildung in Systemischer Therapie (PHB), Projektkoordinatorin und psychologische Beraterin bei steps
Swaantje Laurent: Psychotherapeutin in Ausbildung in Verhaltenstherapie (PHB), Projektkoordinatorin und psychologische Beraterin bei steps
Natalia Premer: Psychotherapeutin in Ausbildung in Systemischer Therapie (PHB), Sprechstundenkoordination, Dolmetscherin, Übersetzerin und psychologische Beraterin bei steps
Mateo Bayer: Psychotherapeut in Ausbildung Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (BAP), psychologischer Berater für steps
Interview: Cornelia Weinberger
Fotos: Mara Buggenthin